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Ich habe eine Agentur gegründet – und ich bin eine Frau!

Ich habe eine Agentur gegründet – und bin eine Frau!

 

 

Von Chris Stricker (haebmau)

 

 

Seit ich die Agentur haebmau vor 34 Jahren gegründet habe, werde ich regelmäßig für einen Mann gehalten. Fair enough, da besonders im internationalen Kontext mein Name „Chris“ Männern zugeschrieben wird. Mich stört nicht die Verwechslung in einer E-Mail oder auf einem Briefkopf. Mich stört der Blick, den mir vor allem in meinen ersten Jahren als Agenturchefin besonders männlich gelesene Personen gerne in Meetings entgegengebracht haben: der „Wo-ist-Herr-Stricker-und-was-macht-die-Sekretariatsmaus-hier?- Blick“.

Das Problem ist offensichtlich: eine Verwechslung auf dem Papier ist irrelevant. Sobald mir jedoch als Frau Attribute, Fähigkeiten und Kompetenzen abgesprochen werden, befinden wir uns im altbekannten Problem: dem Patriarchat. Dem Ort, wo sich Frauen anders beweisen müssen als Männer. Wo Geschlecht keine Frage von Identität ist, sondern eine Frage von Wissen, Position und Fertigkeiten.

Diese Einstellung hält sich dank mangelnder Beispiele seit Jahrzehnten. Denn damals wie heute sind Führungsebenen männerdominiert. Auch jetzt hat nur jede fünfte Agentur eine Geschäftsführerin (GWA Diversity Studie 2021). Ich bin eine dieser CEO und muss mich aufgrund dieser gesellschaftlichen Ungleichheit gezwungenermaßen definieren, um mich zu etablieren. Dabei war diese Frage für mich nie Thema: Meine Persönlichkeit, Ausstrahlung und Kompetenz habe ich nie einem Geschlecht zugeordnet, nur mir als Person.

Parallel zur Frauenquoten-Diskussion kann man auch hier sehen: Ja, es wäre schön, wenn ganz natürlich alle Geschlechter und Identitäten in Führungsebenen, Netzwerken und Gründungen vertreten wären. Passiert aber durch strukturelle Ungleichheiten nicht. Diese ungleiche Verteilung der Geschlechter bricht langsam auf – immer mehr diverse Teams von Gründer*innen treten in die Unternehmerwelt ein.

Das Thema Diversity ist heute einfach präsenter und das Bewusstsein dafür geschärft. Das schafft aber auch Nährboden für „Diversity-Washing“: Quoten werden eingeführt, Vorzeige-Personen des Unternehmens nach außen gezeigt und strukturelle Probleme weiter ignoriert. Committen sich Unternehmen und Agenturen wirklich zu Diversity oder ist das nur eine Fassade, um in der Welt heute noch gebucht zu werden?

Für mich persönlich sollte Vielfalt ein normaler Bestandteil des Lebens sein, im besten Falle auch keine erzwungene Situation und schon gar keine Modeerscheinung. Das Geschlecht sollte egal sein für den Job, die Qualifikation oder Kompetenz. Solange Mädchen immer noch mit Puppen und Jungen mit Autos spielen, Männer keine Emotionen zeigen dürfen und Frauen durch Emotionen als „hysterisch“ gelten, kommen wir der Lösung nicht näher. Am Ende kann eine diverse Unternehmenswelt nur durch strukturelle Lösungen entstehen, die dafür sorgen, dass Geschlechter gleichgestellt sind, besonders Frauen Karriere und Kinder vereinen können, ohne sich in eine finanzielle Abhängigkeit begeben zu müssen, oder sich eine natürliche Diversity in Führungsebenen ergibt. Zumindest in der Agenturbrache sehe ich hier schon erste Fortschritte in Sachen Bewusstseinsänderung.

Ich, Chris, werde auch weiter für einen Mann gehalten werden, ich werde mich weiter behaupten müssen. Gleichstellung und Diversity sind auch 2022 noch längst nicht State of the Art. Einsteiger*innen in die Agenturbranche möchte ich Folgendes raten: Nehmt Verwechslungen auf dem Papier mit Humor, aber lasst euch keine Diskriminierungen in der Realität gefallen. Ihr werdet mit guten Argumenten überzeugen müssen, mehr als Männer es teilweise müssten. Lasst euch deshalb aber nicht von eurem Weg abbringen und behaltet euer Ziel immer im Auge. Strukturelle Probleme können wir nur von oben angehen und mit Beispielen voran gehen, die zeigen, dass Kompetenz nicht an Geschlechter geknüpft ist!

Chris Stricker ist Gründerin und Vorständin der Agentur haebmau in München und Berlin.